Musikalische Akustik und Musikinstrumentenbau
Helmut Fleischer, Neubiberg bei München
Festvortrag, gehalten anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens
des Instituts für Musikinstrumentenbaus in Zwota
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
der Organisator der heutigen Festveranstaltung, mein hochgeschätzter Kollege Gunter Ziegenhals, hat mich gefragt, ob ich nicht ein paar Sätze zum Thema "Musikalische Akustik und Musikinstrumentenbau" sagen könnte. Dieser Bitte komme ich gerne nach, zumal da er mir freie Hand gelassen hat, dies von einer ganz persönlichen Warte aus zu tun. Das werde ich jetzt versuchen, auf die Gefahr hin, möglicherweise das eine oder andere, oder - schlimmer noch - den einen oder anderen nicht zu erwähnen. Räumlich gesehen werde ich mich dabei auf Deutschland und zeitlich auf die Gegenwart beschränken. Also: Die folgenden Ausführungen erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern geben meine subjektive, momentane Sicht der Dinge wieder.
Vier Themenkreise will ich ansprechen:
1. Was ist "Musikalische Akustik"?
2. Wer betreibt "Musikalische Akustik"?
3. Was leistet "Musikalische Akustik"?
4. Wie kann der Musikinstrumentenbau von der "Musikalischen Akustik" profitieren?
Sie sehen, in dieser Aufzählung kommt "Musikalische Akustik" viermal vor, "Musikinstrumentenbau" nur einmal. Das liegt daran, dass ich von Letzterem leider nicht sehr viel verstehe, und unter seriösen Wissenschaftlern ist es nun einmal guter Brauch, nicht über Dinge zu reden, von denen man keine Ahnung hat - zumindest nicht vor Publikum. Mehr Erfahrung mit Musikinstrumentenbauern hat beispielsweise Walter Krüger, so viel, dass er für übermorgen einen entsprechenden Fachvortrag angekündigt hat. Warum ich trotzdem referieren darf, liegt wohl daran, dass ich aus München komme. Gunter Ziegenhals hat in einem Nebensatz fallen lassen, dass bayerischer Dialekt immer gut ankäme. Ich werde ihn in dieser Hinsicht enttäuschen und mich - soweit es mir möglich ist - bei meinem Vortrag des Hochdeutschen bedienen.
1. Was ist Musikalische Akustik?
Einem Sprachpuristen dürfte dieser Begriff sicher nicht ganz glücklich gewählt erscheinen. Korrekter wäre vielleicht "Akustik unter besonderer Berücksichtigung der Erzeugung und Wahrnehmung musikalisch genutzter Schalle"; ist aber nicht gerade elegant. Also, belassen wir es beim ursprünglichen Begriff.
Musikalische Akustik umfasst aus meiner Sicht zunächst einmal die wissenschaftlichen Grundlagen dafür, wie ein Musikinstrument - und hier schließe ich die menschliche Stimme ein - funktioniert. Dies beinhaltet,
Bis hierhin ist alles noch Physik, und so heißt das einschlägige Standardwerk von Fletcher und Rossing auch "The physics of musical instruments". Schwingungslehre und Schallfeldakustik sind aber nur ein Teil der Wahrheit. Ganz wesentlich ist, was geschieht, sobald das Schallsignal am Ohr eingetroffen ist und der Mensch mit seinem Gehör ins Spiel kommt. Hier setzt die Psychologische Akustik auf zweierlei Arten an:
Mit oder ohne Einbeziehung des Menschen, der Musikalischen Akustik geht es um harte Fakten, die belegbar und nachprüfbar sein müssen. Sie gehört zu den exakten Wissenschaften. Damit dürfte die Abgrenzung gegenüber manchen Ausprägungen der Musikwissenschaft klar sein.
2. Wer betreibt Musikalische Akustik?
Vorweg: Ein Bundesamt für Musikalische Akustik gibt es nicht, und es gibt auch kein Universitätsinstitut, das so heißt. Wirklich hauptberuflich befassen sich derzeit nur wenige, in Deutschland höchstens ein Dutzend Personen, mit dieser Thematik. Einige Beispiele:
Die vorher erwähnte PTB liefert das Stichwort für ein wichtiges Sammelbecken auch für Wissenschaftler, die Musikalische Akustik in der Diaspora betreiben, den Fachausschuss Musikalische Akustik (kurz: FAMA) in der Deutschen Gesellschaft für Akustik (DEGA). Dessen Vorsitzender war Jürgen Meyer und ist Klaus Wogram, beide von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt. Noch soll es Wissenschaftler geben, die sich bisher nicht haben einfangen lassen. Die beginnen aber vielleicht dann zu strömen, wenn ich jetzt einfach einmal behaupte: Die Mitgliederliste dieses Fachausschusses ist auf bestem Wege, das "Who is Who" der deutschen Musikalischen Akustik zu werden.
Davon können Sie sich an Ort und Stelle selbst überzeugen. Morgen und übermorgen hält der FAMA hier ein Seminar ab mit weitgespannten Themen und namhaften Vortragenden von A (Judit Angster), die ein ganzes Bündel von Vorträgen über die Orgel einleitet, bis B (Ingolf Bork) aus Braunschweig, der uns zum Abschluss sagen wird, wie die Stimmgabel schwingt. Damit ist das Alphabet der Musikalischen Akustik aber keineswegs abgehakt. Es geht tatsächlich bis zum Z wie Gunter Ziegenhals und Manfred Zollner. Mein Rat ist, gehen Sie hin, hören Sie zu und machen Sie sich selbst ein Bild.
Auffallen werden Ihnen die zahlreichen Überschneidungen mit angrenzenden Wissensgebieten. Mit anderen Worten: Die Musikalische Akustik ist interdisziplinär. Sie können sich dann auch einen Begriff davon verschaffen, aus welch vielfältigen Tätigkeiten die Personen kommen, die sich damit befassen. Musikwissenschaftler, wie man zunächst vermuten könnte, sind das nur in seltenen Fällen, häufiger Naturwissenschaftler, Physiker, Ingenieure, sehr häufig Elektroingenieure.
Obwohl auf ganz unterschiedlichen Gebieten der Technik tätig, haben sie doch eines gemeinsam: Eine innige Beziehung zum Instrument und zur Musik, sei es von der familiären Prägung her, sei es aus eigener Neigung. Oder anders ausgedrückt: Sie betreiben Musikalische Akustik nur in wenigen Fällen als Profession, aber immer als Passion. Sie sind nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen dabei, also "Amateure" im besten Sinne von "Liebhabern". Und das gilt in vielen Fällen auch für Pensionisten und Emeritierte, die frei von der Bürde eines Amtes nun endlich das betreiben können, was sie schon ein Leben lang interessiert hat: nämlich Musikalische Akustik.
3. Was leistet Musikalische Akustik?
Was gemacht wird, ist allerdings keineswegs amateurhaft, sondern sehr professionell. Ich will versuchen, grob zu katalogisieren, welche Themenkreise sie hauptsächlich behandeln:
Im Vordergrund steht immer die Frage: "Wie funktioniert das Musikinstrument?". Darauf baut auf: "Welcher messbare Kennwert des Instruments beeinflusst wie das Schallsignal?". Dagegen könnten Sie - wie übrigens auch mancher Musikwissenschaftler und Musikinstrumentenmacher - einwenden: Das haben ja wohl bereits vor Jahrhunderten Größen wie Euler, Chladni oder Helmholtz herausbekommen. Im Prinzip ja, im Detail nein. Die Theorie der Wirkungsmechanismen ist im Groben bekannt, nicht jedoch im Feinen ausgearbeitet. Und auf die Feinheiten kommt es beim Musikinstrument bekanntlich an. Das technische Instrumentarium, mit dem man diesen Feinheiten nachzuspüren kann, wird immer umfangreicher. Dies sind u.a.
Zur Illustration möchte ich ein Beispiel nennen, das mir sehr am Herzen liegt, auch wenn es keinen direkten Bezug zum hiesigen Musikinstrumentenwinkel hat: Glocken. Es ist heute möglich, die Teiltöne einer Glocke auf dem Computer mit der Methode der Finiten Elemente sehr genau zu berechnen. Einschränkend muss ich sagen: Die Glocke ist aber auch schon eines der wenigen Beispiele, bei dem dies einigermaßen gut funktioniert. Warum ist das so?
In allen Fällen, in denen dies nicht zutrifft, simuliert das Computermodell die Realität bisher nur unzureichend oder mit riesigem Aufwand. Deshalb hat für Abschätzungen die einfache Theorie durchaus ihre Daseinsberechtigung, und darüber hinaus vor allem das Experiment. Versuche spielen in der Musikalischen Akustik, ungeachtet aller Computerisierung, eine ganz wesentliche Rolle.
Wie bereits erwähnt: Physik in Theorie, Computermodell und Experiment ist nicht alles, zumindest bei einem Musikinstrument. Es ist kein Problem, 1000 Schwingungsformen einer Glocke zu berechnen. Gemessen haben englische Kollegen einer Veröffentlichung zufolge 134 solcher Formen. Zum Prinzipalbereich zählen die Campanologen üblicherweise fünf Teilschwingungen. Wird die Glocke angeschlagen, hört man letztlich eine Tonhöhe, den so genannten Schlagton, der - nebenbei bemerkt - weder dem tiefsten, noch dem stärksten Teilton entspricht, sondern erst beim Hören entsteht. Dieses Beispiel soll verdeutlichen:
Worauf ich hinaus will, ist die fundamental wichtige Rolle des Hörens, die natürlich dem Musiker mit den "goldenen Ohren" und dem Instrumentenbauer sehr wohl bekannt ist.
Hier muss man durchaus nicht die Hände in den Schoss legen und resigniert feststellen, dies entziehe sich nun endgültig dem Zugriff der Wissenschaft. Im Gegenteil, das Wissensgebiet der Psychologischen Akustik bzw. Psychoakustik (ich erwähne als einen ihrer Väter meinen akademischen Lehrer Eberhard Zwicker aus München) hat in jüngerer Zeit enorme Fortschritte gemacht. Sie stellt Methoden bereit, die Hörempfindung mit Experimenten zu erforschen und mit den neuen gehörbezogenen Messverfahren nachzubilden.
Ihr großes Verdienst im vorliegenden Zusammenhang ist, dass sie es ermöglicht, diese Informationsreduktion nachzuvollziehen. Sie sagt uns, welche von den vielen Teiltönen, die wir berechnen oder messen können, für das Hören überhaupt von Bedeutung sind. Dadurch weist sie den physikalischen Parametern denjenigen Stellenwert zu, der ihnen für die Funktion des Instruments tatsächlich auch zukommt. Die Psychoakustik ist die notwendige Ergänzung der Physik und relativiert dadurch, dass sie den Blick auf das Wesentliche fokussiert.
4. Wie kann der Musikinstrumentenbau von der Musikalischen Akustik profitieren?
Zunächst einmal dadurch, das der Instrumentenmacher nicht etwa der Befürchtung anheim fällt, der Akustiker möchte dem Meister mit den "goldenen Händen" ins Handwerk pfuschen. Mit solchen Vorbehalten würde er möglicherweise nicht einmal allein dastehen. Sie werden auch von manchem Geisteswissenschaftler gepflegt, der sich mit Musik beschäftigt.
Zur Begründung dieser Abwehrhaltung wird ein Gegensatz konstruiert zwischen Technik auf der einen Seite und Musizier- und Handwerkskunst auf der anderen Seite. Hier frage ich Sie: Was anderes als ausgeklügelte Technik steckt denn in einer Orgel, der Königin aller Musikinstrumente? Meine Damen und Herren, draußen auf dem Parkplatz stehen lauter Autos, aber keine einzige Postkutsche. Warum, bitte, sollte dann die Stimmgabel das modernste Messinstrument sein, das man bei der Glockenprüfung akzeptiert? Technische Hilfsmittel sind kein Teufelszeug. Richtig und sinnvoll eingesetzt, bringen sie Segen. Wer einen Gegensatz Technik versus Kunst beschwören will, verspielt schlicht jede Chance auf Weiterentwicklung.
Um noch einmal das Beispiel der Glocke zu bemühen: Wenn der Glockengießer nichts weiter will, als immer wieder die Glocken kopieren, die schon sein Vater und Großvater gegossen haben, dann allerdings kann man den Dialog an dieser Stelle beenden. Etwas übertreibend könnte man sagen: Dieses Handwerkswissen liegt seit dem Guss der Erfurter Gloriosa, also seit 500 Jahren vor, und seitdem liefert es auch wirklich gute Ergebnisse. Es gibt aber auch den einen oder anderen Glockenmacher, der ganz genau wissen will, was abläuft, wenn eine Glocke angeschlagen wird. Vielleicht strebt er sogar nach Höherem und will neue Klänge erzeugen, womöglich etwas noch nie da Gewesenes schaffen, seine Handwerkskunst nicht nur auf tradierte Weise ausüben, sondern sie mit seinem Verstand durchdringen und zu ihrer Fortentwicklung beitragen.
Wie könnte er das bewerkstelligen? Er kann entweder ständig neue Rippen ersinnen, die Form herstellen, die Glocke gießen, den Klang durch einen Glockensachverständigen beurteilen lassen und sie wieder einschmelzen, wenn das Ergebnis nicht befriedigt. Dieses "Trial and Error" wäre möglich, aber viel zu langwierig und immens teuer. Es ist wesentlich zielführender, Variationen der Form und ihre Auswirkungen auf den Klang am Computer zu simulieren und erst dann mit den handwerklichen Form- und Gießarbeiten zu beginnen, wenn man sich in der Nähe des Zieles weiß. Warum nicht eines der Optimierungsverfahren nutzen, wie man sie im Automobil- oder Flugzeugbau mit Erfolg verwendet? Die Glocke, deren Computermodell man kennt, dann zu vervollkommnen sowie tatsächlich auch zu formen und zu gießen, ist noch schwierig genug und ein Stück Handwerkskunst, das nun, weiß Gott, kein Akustiker dem Gießer wegnehmen will, geschweige denn kann.
Kurzum: Dieses Beispiel zeigt, Methoden der Musikalischen Akustik können
In anderen Ländern hat man überhaupt keine Hemmungen, traditionelle Handwerkskunst mit Computerverfahren auf das Vorteilhafteste zu kombinieren. Von Japan, das bekanntlich sehr technikgläubig ist, will ich gar nicht reden. Beispielsweise in den Niederlanden, wo Glockenspiele eine große Tradition haben, hat man mit viel Erfolg neuartige Carillons mit dem Computer gerechnet und traditionell gegossen, und die werden sogar akzeptiert. Was ich sage, bezieht sich nicht nur aufs Glockengießen, sondern auf jede Sparte des Musikinstrumentenbaus. Überall gibt es Möglichkeiten, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Gewinn zu nutzen. Damit lassen sich
Auf den Konkurrenzdruck, der aus der Globalisierung und der EU-Erweiterung gerade an der Grenze zu Tschechien erwächst, will ich gar nicht erst eingehen. Dies brauche ich hier wohl auch nicht, weil ich den Musicon-Valley-Aktivitäten mit Freude entnehme, dass man dem Gebot der Stunde gefolgt und in der richtigen Richtung aktiv geworden ist. Also: Man sollte es nicht als Bruch der Handwerksehre sehen, neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden in die tägliche Arbeit einfließen zu lassen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man davon erst einmal Kenntnis bekommen muss.
Hier zeigt sich nun eine fundamentale Schwierigkeit: Oft ist einfach nicht bekannt, was alles schon gemacht worden ist. Diese Problematik hat der Fachausschuss sehr wohl erkannt. Aus diesem Problembewusstsein heraus plant es, eine umfassende Datenbank von Arbeiten zur Musikalischen Akustik zu erstellen und allen Interessierten, natürlich auch und vor allem den Musikinstrumentenbauern, frei zugänglich zu machen. Man kann sagen: FAMA - die tun was.
Woran man sich in diesem Zusammenhang gewöhnen muss, das ist, dass viele dieser Arbeiten keine Auftragsforschung mit praxisorientierter Aufgabenstellung sind. Vielmehr wählt häufig der Autor selbst ein Thema und bearbeitet es auf einem hohen Niveau wissenschaftlicher Abstraktion. Dies bedeutet, dass der Musikinstrumentenbauer nicht jede seiner Fragen direkt beantwortet finden wird. Es bedarf der Geduld, wenn die Erkenntnis in Bruchstücken vorliegt, die erst zusammengesetzt werden müssen. Dies wird nicht zuletzt dadurch erschwert, dass der Handwerker und der Wissenschaftler auch dann unterschiedliche Sprachen sprechen, wenn beide Deutsche sind.
Um so wichtiger wird die Rolle von sachkundigen und kompetenten Mittlern,
Diese Mittler gibt es. Neben dem FAMA ist dies insbesondere und vor allem das hiesige Institut für Musikinstrumentenbau, eine einzigartige Einrichtung, gleichermaßen nahe der Wissenschaft und nahe am Instrumentenbau.
Und damit schließt sich der Kreis zum Anlass dieser Feierstunde. Nach allem, was ich
ausgeführt habe, kommt dem Institut für Musikinstrumentenbau in Zwota, das es seit nunmehr 50 Jahren gibt, eine herausgehobene Rolle zu. Angesichts dessen, was sich in Hinsicht auf zentrale Stützpunkte der Musikalischen Akustik - beispielsweise in Braunschweig - abgespielt hat, kann ich meinem Empfinden zum Institut am besten mit den Worten aus der Fernsehwerbung Ausdruck verleihen:
Schön, dass es so etwas noch gibt! Und ich hoffe sehr, dass
es so etwas noch lange geben wird. "Das Institut" ist
eine feste Größe im Musikwinkel.
Meine herzliche Gratulation "dem Institut" mit all
seinen Mitarbeitern, Respekt für das, was in den vergangenen 50
Jahren geleistet worden ist und "ad multos annos".
Wuchern Sie mit dem Pfund, dass Wissenschaft und Handwerkskunst
hier im Vogtländischen Musikwinkel die besten Voraussetzungen
vorfinden, eine fruchtbare Symbiose einzugehen und so die ganze
Musicon Valley-Region zu prägen.
Ich freue mich, dass "das Institut" existiert und so gute Arbeit leistet. Meine Damen und Herren, freuen Sie sich mit mir!