Zur Automatisierung von Akkordeon - Stimmprozessen
G. Richter
Institut für Musikinstrumentenbau Zwota
Demusa report 90
Die Eigenschwingungsfrequenzen der ins
Akkordeon eingebauten Tonzungen legen die Tonhöhe der
abgestrahlten Klänge fest und bilden damit die Grundlage für
die Stimmungsqualität des betref£enden Instrumentes. Im
Produktionsdurchlauf ist es üblich, diese Zungenfrequenzen
mehrfach zu korrigieren. Das hat folgende Gründe: einmal treten
auf dem langen Weg von der äusgestanzten Tonzunge bis zum
versandfertigen Instrument verschiedene konstruktions- und
fertigungsbedingte Frequenzverwerfungen auf. Diese sind zwar
qualitativ bekannt, aber auf der Grundlage von
Produktionserfahrungen quantitativ nur grob und ungenau
abzuschätzen. Außerdem läßt sich auch bei einem extrem hohen
technischen Aufwand die einzelne Zunge maßlich nicht so genau
herstellen, daß ihre Frequenz im Endstadium des fertigen
Akkordeons den geforderten engen Stimmungstoleranzen entspricht.
Andererseits ist es unmöglich, die Zungen bis zum Reinstimmen
unkorrigiert zu lassen und erst dort den für eine hochwertige
Stimmung erforderlichen Endwert zu fixieren, weil die
unvermeidlich weiten Streubereiche vom Reinstimmer nicht mehr zu
bewältigen wären.
Das erste Hinarbeiten auf die Zielfrequenz erfolgt bereits beim
Zungenschleifen. Obwohl dafür Präzisionsmaschinen eingesetzt
werden, läßt sich ein Streubereich von etwa ± 20 cent nicht
umgehen. Die Frequenzverwerfungen, die beim Vernieten der Zungen
an der Rahmenplatte auftreten, erhöhen den Wert zusätzlich.
Eine Einengung dieses weiten Streubereiches vor der
anschließenden Verarbeitung und dem Einbau der Stimmplatten ins
Instrument ist unerläßlich.
In der herkömmlichen Technologie erfolgte diese erste Korrektur
durch das sogenannte "Bankstimmen". In der Stimmerbank
wurde die für die Zungenerregung notwendige Saugluft durch
Bälgetreten erzeugt. Die Tonhöhe der über der Ansaugöffnung
aufgespannten und zu korrigierenden Stimmplatte verglich der
Bankstimmer gehörsmäßig mit einer simultan angespielten
Normal-Tonzunge. Durch Materialabtragen in der Nähe des
schwingenden oder des festen Zungenendes - je nach erforderlicher
Plus- oder Minuskorrektur wurde der Streubereich der
Frequenzabweichung auf etwa ± 5 cent verringert.
Mit dem Ventilieren und Aufwachsen der Stimmplatten und mit dem
anschließenden Einsetzen der Stimmstöcke in die Gehäuseteile
sind weitere unvermeidliche Frequenzverwerfungen verknüpft, die
eine erneute Korrektur notwendig machen. Diese erfolgt beim
sogenannten "Reinstimmen". Bei diesem Arbeitsgang wird
zugleich die Endstimmung des Instrumentes als
gleichschwebend-temperierte Stimmung bezogen auf a1 =
440 Hz eingestellt. Aus der Arbeit des Reinstimmers resultiert
die Stimmungsqualität des betreffenden Akkordeons. Obwohl
Stimmungsmeßgeräte zur Verfügung stehen, verläßt sich der
Reinstimmer vor allem der Produktivität wegen überwiegend auf
sein Gehör, das darauf geschult ist, aus dem Zusammenspiel
zweier Zungen Oberton-Schwebungen herauszuhören. Diese
Gehörschulung erfordert im allgemeinen einen hohen
Qualifizierungsaufwand bei der Ausbildung von Reinstimmern.
Das rasche Anwachsen der Akkordeonproduktion und die steigenden
Anforderungen an die Stimmungsqualität waren die
hauptsächlichen Gründe dafür, daß im VEB Klingenthaler
Harmonikawerke bereits Anfang der 60er Jahre die ersten
Stimmautomaten für Akkordeonstimmplatten in Betrieb genommen
wurden. In derartigen, mit moderner Elektronik ausgestatteten
Maschinen werden die durch Saugwind angeregten Tonzungen im
Wechseltakt mittels einer rotierenden Schleifscheibe bearbeitet
und mittels fotoelektrischer Schwingungsabnahme gemessen. Sobald
die vorgegebene Sollfrequenz für den betreffenden Ton erreicht
ist, schaltet sich der Schleifvorgang ab. Nach der Korrektur
beider Zungen wird die Stimmplatte dem Arbeitsgang Ventilieren
zugeführt. Aufgrund der Tatsache, daß mit dem Aufwachsen der
Stimmplatten auf die Stimmstöcke die Zungenfrequenzen
gesetzmäßig nach unten verschoben werden, liegen die
Zielfrequenzen des automatischen Stimmens nicht bei ± 0 cent, sondern
sind so weit angehoben, daß die Einbauverwerfungen im
statistischen Mittel kompensiert werden. Die zulässige Streuung
liegt bei ± 2 cent.
Die Vorteile, die mit der Einführung eines automatischen Stimmprozesses erzielt werden konnten, sind vielschichtig. Die wichtigsten Aspekte sollen im folgenden genannt sein:
Über mehr als zwei Jahrzehnte wird das hier beschriebene automatisierte Stimmverfahren in der Klingenthaler Akkordeonindustrie praktiziert, und das zur vollsten Zufriedenheit von Akkordeonspielern und Herstellern. In letzter Zeit jedoch besteht mehr und mehr Veranlassung, eine Weiterentwicklung der Automatisierung ins Auge zu fassen Dem ständig steigenden Bedarf an Künstlerinstrumenten kann seitens der Fertigung nur soweit entsprochen werden, wie Kapazität an qualifizierten Reinstimmern zur Verfügung steht. Reinstimmer lassen sich aber nicht "aus dem Boden stampfen". Ihre Ausbildung ist langwierig, und nicht wenige erreichen nie das spezielle Hörvermögen und müssen deshalb wieder aufgeben.
Aus dieser Situation erwächst die Notwendigkeit, den Reinstimmaufwand in der Serienproduktion weiter einzuschränken. Die Zielsetzung für die Forschung und Entwicklung lautet deshalb: Beseitigung oder mindestens wesentliche Verringerung der Einbaufrequenzverwerfungen, die bisher ein unüberwindliches Hindernis darstellten. Die Ursachen für das Absinken der Zungenfrequenzen beim Einbau der Stimmplatten wurden jetzt in umfangreichen Meßreihen quantitativ untersucht. Der Haupteinfluß rührt von der Kanzelle her. Das eingeschlossene Luftvolumen im Kanzellenraum wirkt als Belastung für die schwingende Zunge, deren Frequenz dadurch verringert wird. Außerdem, so konnte nachgewiesen werden, beeinträchtigen das Tonloch und die Zungenventile die Zungenfrequenz. Aus den inzwischen vorliegenden Ergebnissen lassen sich Schlußfolgerungen für die Konstruktion künftiger Stimmautomaten ableiten, die der oben genannten Zielsetzung entsprechen. Auch diese Maßnahmen werden dazu beitragen, die Qualität der Serienakkordeons weiter zu verbessern und das Angebot an Künstlerinstrumenten zu erweitern.