Einfluß von Resonanzräumen auf die Klangabstrahlung des Akkordeons

G. Richter
Demusa Report ‘89

Der Klang der resonatorfreien Durchschlagzunge ist obertonreich und scharf. Dieser Klangcharakter trägt wesentlich zur Beliebtheit der Zungeninstrumente bei. Vor allem die Mundharmonika und die verschiedenen Handbalginstrumente sind aus dem Bereich des volkstümlichen Musizierens nicht mehr wegzudenken. Mit der ständigen Weiterentwicklung der Handharmonika zum vollwertigen Künstlerinstrument und mit der Entfaltung einer konzertanten Originalmusik für Akkordeon wandeln sich jedoch zwangsläufig die Vorstellungen vom Klangideal. Gedeckte und dabei volle, runde Klangfarben rücken für einen großen Teil der Instrumente mehr und mehr in den Vordergrund. Das Wirkungsvollste wäre eine Rückkehr zur Durchschlagzunge mit angekoppelter Rohrresonanz, wie sie vom alten chinesischen Sheng und anderen Blasinstrumenten her bekannt ist. Aber dieser Schritt, mit dem sich der Kreis der Geschichte schließen würde, verbietet sich. Es wäre die Abkehr vom Akkordeon und von den Zungeninstrumenten. Vielmehr sehen sich die Instrumentenbauer vor die Aufgabe gestellt, durch entsprechende Bauteile am Akkordeon diesen neuen klanglichen Vorstellungen Rechnung zu tragen, ohne am Grundprinzip der zugleich klangerregenden und klangabstrahlenden Zunge etwas zu verändern.
Die Klangabstrahlung der Durchschlagzungen erfolgt beim Akkordeon durch die Tonlöcher. Die Einwirkung auf den Tonlochschall bietet daher günstige Möglichkeiten zur Klangfarbenbeeinflussung. Sowohl konstruktive Veränderungen an den Stimmplatten und Zungen als auch die Gestaltung der Kanzellen sind im Vergleich dazu von geringer Bedeutung. Um eine wirkliche Klangveredlung zu erreichen sind aufwendige Konstruktionen erforderlich. Hinausgehend über eine Dämpfung muß in bestimmten Frequenzgebieten auch eine Verstärkung zustande kommen. Das gelingt durch schwingungsfähige Hohlräume, deren Resonanzen durch den Tonlochschall angeregt werden. Ein herausragendes Beispiel dafür ist das seit etwa 30 Jahren bekannte Cassotto, das heute in nahezu allen Solisteninstrumenten eingebaut ist. Die Resonanzfrequenz dieses langen, in den Abmessungen von Hersteller zu Hersteller nur unwesentlich differierenden Schachtes liegt im Bereich von 800 Hz bis 1 kHz, also in einem klangästhetisch günstigen Formantgebiet. Die Beliebtheit der Cassotto-Klangfarbe dürfte darin begründet sein.
Da die Herstellung der Cassotto-Instrumente mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden ist, fehlte es nicht an Versuchen, eine cassottoähnliche Klangwirkung mit einfachen Mitteln zu erzielen. Beim "Verdeck mit tonlagenabhängiger Schalldurchlässigkeit" wird im tiefen Bereich durch eine geschlossene Verdeckfläche eine Resonanzverstärkung hervorgerufen, während im hohen Bereich nach gleitendem Übergang eine ungehinderte Klangabstrahlung erfolgt. Diese einfache und dabei sehr effektive Umgestaltung des ohnehin notwendigen Verdecks fand im bekannten WELTMEISTER-Modell "Stella" Anwendung. Auch die gänzlich geschlossene haubenförmige Verdeckfläche bildet über der Füllung einen schwingungsfähigen Raum, dessen Resonanzfrequenz bei etwa 500 Hz liegt, und der eine angenehme Klangwirkung hervorruft. Wird ein derartiges Verdeck mit wahlweise verschließbaren Öffnungen ausgestattet, steht dem Spieler eine Variierungsmöglichkeit zur Verfügung, ohne daß die runde, volle Klangfarbe verlorengeht.

Um die durch bestimmte Konstruktionen hervorgerufenen Klangveränderungen zu erfassen, lassen sich einzelne Klangspektren aufnehmen. Die Auswertung erweist sich jedoch als zeitraubend und führt zu keinem übersichtlichen Ergebnis. Es wurde deshalb im Institut für Musikinstrumentenbau Zwota eine spezielle Meßmethode entwickelt, die sich bereits bei zahlreichen Untersuchungen bewährt hat und die in folgenden an einem Beispiel erläutert werden soll: Zu analysieren ist der Klangeinfluß eines Verdecks auf die 16'-Reihe. In diesem Falle erfolgt ein simultanes Anspielen aller Zungen dieses Chores, und zwar in beiden Varianten "mit Verdeck" und "ohne Verdeck". Das jeweilige Klanggemisch wird einem Terzpegel-Spektographen zugeführt. Subtrahiert man die Pegelwerte "ohne Verdeck" von denen "mit Verdeck" so ergeben sich Pluswerte in denjenigen Frequenzbereichen, in denen das Verdeck eine Verstärkung hervorruft, und Minuswerte dort, wo ihm eine dämpfende Wirkung zugeschrieben werden muß. Die über der Frequenz aufgetragenen Differenzpegelwerte lassen sich dann als "Frequenzgang" der betreffenden Konstruktion ansehen (Abbildung).

 

lm Rahmen der angestrebten Weiterentwicklungen sind verschiedene Zielsetzungen zu unterscheiden, einmal die Steigerung des bisherigen Cassottoeffektes, außerdem die Verwirklichung cassottoähnlicher Klangfarben mittels einfacher Konstruktionen und schließlich eine zweckmäßige Anpassung des Cassottos an den Akkordeonbaß. Eine deutliche Steigerung der Cassottowirkung läßt sich erzielen, wenn man den Cassottoschacht in einzelne Tonkammern aufteilt. Die Resonanzfrequenz der Tonkammern werden auf einen sehr engen Tonlagenbereich abgestimmt, so daß anstatt der formanthaften Cassotto-Verstärkung eine Teiltonanhebung in Erscheinung tritt. Entsprechende Modelle sind in Vorbereitung. Unter dem Gesichtspunkt eines geringen Fertigungsaufwandes sind Klangkonstruktionen dann besonders günstig, wenn sie sich mittels des ohnehin notwendigen Verdecks realisieren lassen. Diesbezüglich wurde das "Verdeck mit tonlagenabhängiger Schalldurchlässigkeit" bereits genannt. Eine Steigerung stellt das "3-Varianten-Verdeck" dar, das zusätzlich Variierungsmöglichkeiten bietet. Es ist mit zwei großen Abdeckklappen ausgestattet, je eine über dem tiefen und über dem hohen Tonlagenbereich. Sie lassen sich wahlweise und von einander getrennt öffnen und schließen. Klanglich interessant sind drei Varianten: Tiefe Tonlage geschlossen und hohe offen - cassottoähnliche Verstärkung im unteren Tonlagenbereich und freie Klangabstrahlung im oberen; beide Klappen geschlossen volle Dämpfung im gesamten Diskantbereich; beide Klappen offen - normale, scharfe Klangfarbe für alle Zungen.
Der Baß wurde bisher in die Klanggestaltung kaum einbezogen. Man beschränkte sich darauf, den Baßdeckel mit mehr oder weniger großen Durchbrüchen zu versehen, um die Klangstärke dem Diskant anzupassen. Bei Cassotto-Instrumenten wurde im allgemeinen der Baßdeckel vollkommen geschlossen ausgeführt, um den Baßklängen die Schärfe zu nehmen. Im neuen WELTMEISTER-Solistenakkordeon "Cantora" kommt erstmals eine spezielle Konstruktion zur Anwendung, die sich an das Diskant-Cassotto anlehnt, aber auch den Raum zwischen Füllung und Baßdeckel in die Klanggestaltung einbezieht (Patent angemeldet) . Der Frequenzgang dieses Baß-Reflexionscassottos (Abbildung) zeigt auch die typischen Merkmale, die vom Diskant-Cassotto her bekannt sind. Darüber hinaus wirkt sich die Ausdehnung des Resonanzgebietes auf tiefe Frequenzen bis zu 200 Hz insofern günstig aus, als dieser Einfluß den klanglichen Vorstellungen vom "fundamentalen Baß" entgegenkommt. Diese Entwicklung dürfte deshalb zur Beliebtheit des Klingenthaler Spitzeninstrumentes beitragen.

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